Selten war ein Geschichtsbuch für mich eine so große Offenbarung wie »Diesseits der Mauer« von Katja Hoyer.
Die Autorin wurde 1985 in der DDR geboren, erlebte das Land also kaum bewusst mit. Sie studierte Geschichte und lehrt jetzt an einer Universität in England. Das Buch wurde von ihr in englisch verfasst (später von Franka Reinhart und Henning Dedekind ins Deutsche übersetzt) und soll vor allem denjenigen einen Einblick ins Leben in der DDR gewähren, die dort nicht aufgewachsen sind bzw. die nicht aus Deutschland kommen.
Die Autorin vereint beides, sie hat die DDR kaum noch bewusst miterlebt, ist aber durch ihre Herkunft und ihre Familie dennoch mit dem Osten Deutschlands verwachsen. Vielleicht ist es gerade diese Situation, die ihr einen objektiven Blick erlaubt. Denn sind wir ehrlich, so hat jeder von uns andere Erfahrungen in und mit der DDR gemacht. Es gibt Ostdeutsche, die im Nachhinein ihr Leben dort verklären und durch die rosarote Brille betrachten. Auf der anderen Seite aber es gibt genug Westdeutsche, die genau zu wissen glauben, wie es in der DDR war und es einem spüren lassen, wenn man dagegen zu argumentieren versucht. Auch die Autorin wurde von diversen Medien gegeißelt. Die TAZ warf ihr die Nähe ihrer Eltern zum Regime vor, und dass sie nur abgeschrieben und nichts selbst erforscht hätte.
Bei einem Buch mit 592 Seiten kann man nicht verlangen, alles selbst zu erforschen, außerdem ist es bei historischen Sachbüchern legitim, sich anderer Quellen zu bedienen. Zumal sie bereits in den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhundert mit der Dokumentation der Geschichte beginnt. Katja Hoyer hat viel recherchiert und zusammengetragen. Die Informationen aus Briefen, Biografien und TV-Dokus zusammen mit selbst geführten Interviews mit Zeitzeugen wurden von ihr chronologisch geordnet und kommentiert. Ich habe sehr viel aus dem Buch gelernt, was ich noch nicht wusste. (Zum Beispiel das Erich Honecker drei Mal verheiratet war.) Besonders was die Zusammenhänge zwischen den deutschen Kommunisten und Stalin betrifft und wie die Inhaftierung deutscher Kommunisten in den 30er und 40er Jahren in Russland letztendlich dazu geführt hat, dass alles so kam, wie es gekommen ist. Jede Information, jedes Zitat wird im Quellenverzeichnis belegt.
Es ist aber vor allem der Tonfall in dem sie die Geschichte der DDR erzählt. Locker und authentisch durch diejenigen, die es selbst erlebt haben. Bei vielen Sachen musste ich nicken, weil ich genau das gleich erlebt habe. Bei anderen habe ich nur gestaunt, weil ich davon zum ersten Mal etwas gehört habe. In »Diesseits der Mauer« geht es auch um die Menschen in der DDR, um ihr Leben abseits von Stasi und Mauer. Es war so, wie sie sagt, man arrangierte sich mit dem Land und seiner Politik. Man lebte sein Leben mit den großen und kleinen Unzulänglichkeiten, wie dem permanenten Mangel oder der eingeschränkten Reisefreiheit. Ich vergleiche Letzteres immer mit einem Blick zum Mond. Man sieht ihn, weiß, dass er da ist, weiß aber auch, dass man dort nie hinkommen wird. So war das auch für mich. Ich wusste, es gab Städte wie Paris oder New York, aber ich wusste auch, dass ich dort wahrscheinlich nie würde hinreisen können. Man akzeptiert das, weil man nichts anderes kennt. Das Buch zeichnet ein Bild, das ich sehr realistisch finde und dass ich selbst noch so in Erinnerung habe, auch wenn ich erst fünfundzwanzig Jahre nach der Gründung der DDR geboren wurde. Weshalb die letzten Kapitel des Buches für mich eine Reise in meine Vergangenheit darstellen.
Ich lernte auch: Es gab viele Errungenschaften in der DDR, viel mehr, als man auf dem Schirm hat. Und ich gebe der Autorin recht, wenn sie sagt, dass man dies nicht verleugnen sollte. Allein die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, die zwar aus der Not heraus geboren worden war, die sich aber zu einem wichtigen gesellschaftlichen Faktor entwickelte und von dem wir heute meilenweit entfernt sind. Ein Beispiel: Mitte der 80er Jahre gab es in der nationalen Volksarmee die ersten weiblichen Offiziere. Manche erlangten strategisch wichtige Positionen. Mit dem Ende der DDR kam auch das Ende der Frauen bei der Landesverteidigung, da zu diesem Zeitpunkt Frauen in der Bundeswehr (außer im medizinischen Dienst) verboten waren. Diese Vorschrift wurde erst Jahre später gelockert.
Wer wissen will, wie Stalin dafür sorgte, dass ausgerechnet Ulbricht und Honecker die DDR gründeten oder wie Schalck-Golodkowski Franz-Josef Strauß überredete, die Insolvenz der DDR Anfang der Achtziger mit geheimen Krediten abzuwenden oder wie es dazu kam, dass Vietnam mit Unterstützung der DDR zum größten Kaffee-Exporteur der Welt wurde, dann sollte er dieses Buch lesen.