Paris – bereits für mich als zehnjährige hatte die Stadt eine ungeheure Faszination. Das lag hauptsächlich daran, weil ich ein großer Fan von Pierre Brice war, dem wahrscheinlich bekanntesten Franzosen in Deutschland. Ein paar Jahre später war es ein weiterer Franzose, der mein Teenager-Herz eroberte und auch er hieß Pierre (Cosso). Es war die Zeit, als im Fernsehen die Komödien »La Boum« und »La Boum 2« ausgestrahlt wurden. Beide Filme spielten in Paris.
Ich hätte damals sonst etwas dafür gegeben, dort hinfahren zu können und mir die Plätze anzusehen, die im Film gezeigt wurden. Aber das war natürlich nicht möglich. Für einen DDR-Bürger war Paris etwa genausoweit entfernt wie der Mond. Ich hätte mir also auch wünschen können, zum Mond zu fliegen, es hätte keinen Unterschied gemacht. Also blieb mir nichts anderes als die Lektüre von Büchern und auch die waren eher Mangelware. Ich versuchte einige Reiseführer über Paris in der Bibliothek auszuleihen, aber das war schwierig, weil die wenigen Bücher ständig verliehen waren und es lange Wartelisten gab. Irgendwann bekam ich von meinen Eltern einen Bildband geschenkt, mit dem Titel »Rendevous mit Paris«. Dort las ich mir viel Wissen über die Stadt an der Seine an und konnte zumindest anhand der Bilder nach Paris reisen.
1989 geschah dann das Unfassbare – die Mauer fiel und damit auch die Barriere, die mich von Paris trennte.
Im Januar 1990, ich war Fünfzehn, wollte ich es wissen. Findige Busunternehmer aus dem Westen boten den »ausgehungerten« Ostdeutschen die Möglichkeit günstig zu reisen, unteranderem auch nach Paris. Für 99 DDR-Mark fuhr man abends los, verbrachte dann den Tag in Paris und fuhr am darauffolgenden Abend wieder zurück. Meine Eltern wollten mir den Traum erfüllen, aber selbst nicht mitreisen. Sie vertrauten mich also zwei Bekannten an, die mitfahren wollten. Und so stand ich unter vielen fremden Leuten frierend in einer sehr kalten Januarnacht am Bahnhof und wartete auf den Bus, der irgendwann vor Mitternacht ankam und schon brechend voll war. Ich bekam irgendwo ganz hinten einen Platz und schon ging die Fahrt los. Der Busfahrer gab Gas, weil er dem engen Zeitplan wohl schon ziemlich hinterherhinkte, was auf der schlechten und kurvenreichen Strecke durch den Thüringer Wald keine ruhige Fahrt bedeutete.
Nun litt ich schon immer an etwas, das im Englischen die schöne Bezeichnung »motion sickness« hat und für dass es eigentlich kein richtiges deutsches Wort gibt. Drastisch ausgedrückt, mir wurde schlecht und ich kotzte mir auf den 30 Kilometern bis zur bayrischen Grenze die Seele aus dem Leib. An der Innerdeutschen Grenze hielt der Bus wegen der Passkontrollen, die es ja nach wie vor gab und der Reiseleiter überzeugte mich davon, lieber auszusteigen, da sich mein Zustand sicher nicht verbessern würde. Mein Einwand, dass, wenn ich vorne sitzen könnte, es schon gehen würde, wurde ignoriert. Ich bekam meine 99 Mark in die Hand gedrückt und wurde in die Obhut der DDR-Grenzbeamten übergeben. Dann fuhr der Bus weiter – ohne mich.
Ich war am Boden zerstört, hinzu kam die Angst, weil mich die Grenzpolizei wie einen Grenzbrecher behandelte. Ich wurde in ein Büro geführt in dem hinter einem Schreibtisch ein strenger Beamter saß, der mich verhörte. Er tippte auf der alten Schreibmaschine sogar ein Protokoll und rief anschließend meine Eltern an.
Es war nach Mitternacht. Mein Vater hatte, nachdem meine Eltern vom Warten ziemlich durchgefroren waren, vor dem Zubettgehen noch einen Schnaps getrunken. Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als ins Auto zu steigen, um mich abzuholen. Und wie das so ist mit den Zufällen, just in dieser Nacht gerieten sie in eine Polizeikontrolle. Mein Vater erklärte den Beamten die Situation und sagte auch, dass er Alkohol getrunken hatte. In der DDR galt die Null-Promille-Grenze und man legte sich besser nicht mit der Polizei an. Der Vorschlag des Beamten war, dass meine Mutter ja fahren könne. Sie hatte zwar einen Führerschein, war aber mindestens fünfzehn Jahre nicht gefahren. Sie versuchte es zumindest, würgte den Trabbi aber immer wieder ab. Irgendwann hatte der Polizist ein Einsehen. Er ließ meinen Vater blasen und da das Messgerät nichts anzeigte (laut meinem Vater gab es da wohl einen Trick …), durften meine Eltern weiterfahren.
Gegen drei Uhr morgens nahmen sie mich wieder in Empfang und um vier Uhr waren wir wieder zuhause. Damit endete meine Reise nach Paris. Von dem Trauma habe ich mich lange nicht erholt und habe vielleicht deshalb all die Jahre nie wieder versucht nach Paris zu fahren.
Deswegen war ich so alarmiert, als ich am 29.12.2016 in Stuttgart auf der Anzeigetafel las, dass der Zug nach Paris ausfällt. Da befürchtete ich schon, dass es mit meiner Parisreise wieder nichts werden würde, aber zum Glück ist ja dann doch alles gut gegangen. Wahrscheinlich nur deshalb, weil ich meinen Mann dabei hatte.