Am 11. September 2001 arbeitete ich bereits den sechsten Monat in meinem ersten Job nach dem Studium. Es war zwar nur ein Praktikum, aber ich hatte wenige Tage zuvor meinen Arbeitsvertrag für eine Festanstellung ab Oktober unterschrieben. Es war ein normaler Arbeitstag in einem großen Postproduktionshaus in München. Das hieß, hier mal eine MAZ tauschen, dort einen Bildschirm kalibrieren, oder da ein paar neue Anschlussleitungen crimpen. Als ich von einem der Aufträge zurück in die Messtechnik kam, lief beim Kollegen ein Video auf dem Bildschirm mit einem rauchenden Turm des World-Trade-Centers in New York City.
Weil ich wusste, dass der Kollege immer wieder Videos aus dem Internet fischte und an alle aus dem Team verteilte, scherzte ich mit ihm, aus welchem Katastrophenfilm er denn diesmal das Video geschnitten hatte. Er sagte schlicht: »Kein Katastrophenfilm!« und deutete auf das Senderlogo von CNN, das in der Ecke des Videostreams eingeblendet war. Just in dem Moment krachte die zweite Maschine in den Südturm des World-Trade-Centers. Wir waren wie eingefroren, starrten ungläubig auf das Bild. Ich sagte zu ihm: »Du veräppelst mich doch!«
Er rief ein paar Newsseiten im Internet auf und zeigte sie mir. Auf allen waren die Bilder der brennenden Twintower zu sehen. Das bewegte mich sehr. War ich doch erst zwei Jahre zuvor dort gewesen, hatte an einem kalten Januartag vor den bodentiefen Fenstern des Aussichtsdecks des Südturms gestanden und nach unten geblickt. Ein Anblick, den ich nie wieder vergessen würde.
»Ich glaube, wir sollten das denen da oben sagen«, meinte mein Kollege und deutete mit dem Finger nach oben.
Über uns war die Abteilung für Commercials, die Jungs dort produzierten Werbespots und arbeiteten in ihren Räumen relativ abgeschottet. Ich rannte die Treppe rauf und quatschte jeden an, dem ich begegnete. Ein weiterer Praktikant aus der Messtechnik arbeitete ganz hinten in einem Büro und schrieb dort an seiner Diplomarbeit. Ich rannte fast die Tür zu seinem Büro ein und rief: »Du musst unbedingt kommen, es sind zwei Flugzeuge ins World Trade Center von New York gekracht.«
Er runzelte die Stirn. »Haben sich da zwei Ultraleichtflieger verflogen?«
Ich schüttelte mit dem Kopf: »Nein, Passagiermaschinen.« Das diese vollbesetzt gewesen waren, wurde mir erst viel später klar. Es verstörte mich damals zutiefst, dass jemand bewusst unschuldige Menschen mit in den Tod gerissen hatte.
Er sprang auf und wir liefen durch den Flur. Vorn im Showroom neben der Teeküche, hatte bereits jemand den Monitor angemacht und ein Fernsehsignal draufgelegt. Davor hatte sich schon eine Traube von Leuten versammelt, die auf die Bilder aus New York starrten.
Wir gingen die Treppe runter in die Messtechnik, wo nun auch die anderen Kollegen ungläubig auf diverse Monitore blickten.
An dem Tag hat von uns keiner mehr gearbeitet. Alle standen nur rum, sahen sich die Nachrichten an und diskutierten. Wir sahen Bilder aus dem zerstörten Pentagon, sahen erst den einen Turm des World-Trade-Centers fallen, dann den zweiten. Es wurde wild spekuliert und manch einer versuchte Freunde oder Bekannte zu erreichen, die gerade in NYC waren.
Ich radelte nach der Arbeit schnell nach Hause, um ja nichts zu verpassen und verbrachte die halbe Nacht vor dem Fernseher. Die nächsten Tagen waren wir alle wie betäubt. So richtig begreifen konnte das keiner von uns. Es war so surreal.
Die Realität holte uns sehr schnell ein. Die Aufträge für Werbung gingen in den darauffolgenden Wochen massiv zurück. Bald hatten die Jungs im oberen Stockwerk nichts mehr zu tun. Das Geschäftsklima verschlechterte sich zusehends. Und vor Weihnachten teilte mir mein Abteilungsleiter mit, dass ich ab Ende Januar ohne Job sein würde. Angesichts der schlechten Auftragslage wurde allen, die in den letzten Monaten einen neuen Vertrag bekommen hatten, betriebsbedingt gekündigt. Ich konnte zwar noch aushandeln, dass ich zumindest noch bis Ende März bleiben konnte, damit ich wenigstens Anspruch auf Arbeitslosengeld hatte, da ich erst im April angefangen hatte. Aber meine Karriere in der Medienbranche war vorbei, noch bevor sie richtig begonnen hatte.
Die Anschläge in New York haben viele Opfer gefordert. Ich wage zu sagen, dass sie viel mehr Menschenleben auf der Welt negativ verändert oder beeinflusst haben, als uns bewusst ist. Ich denke da an die Kriege in Afghanistan oder im Irak, aber auch an die Medienhäuser, die damals in Deutschland von der Krise in die Knie gezwungen wurden. Ich erinnere mich an die vielen Mitarbeiter von Medienunternehmen, die 2002 mit mir auf dem Münchner Arbeitsamt warteten und versuchten einen Job in der Branche zu bekommen. Damals fühlte auch ich mich ein bisschen als Opfer des 11. September. Wären die Anschläge nicht passiert, wer weiß, ob ich nicht heute noch dort arbeiten würde.
Ich hörte das erst im Radio auf einem Parkplatz vom Toom-Baumarkt. Am nächsten Tag war mein Umzug in eine größere Sozialwohnung. Mein Kleiner war gerade ein halbes Jahr alt. Ich telefonierte mit meiner besten Freundin und meinte, dass ich es kaum erwarten könnte, die nächsten Nachrichten zu sehen. Aber sie meinte, dass das sowieso auf allen Kanälen liefe. Als ich zu Hause war und den Fernseher einschaltete, war ich gelähmt und schockiert und fragte mich, wieso ich Kinder bekommen habe, wenn jetzt der dritte Weltkrieg ausbricht.
Vielen Dank für Deine persönlichen Gedanken und Einblicke zu diesem einschneidenden Ereignis.
Schöner Rückblick; vielen Dank für diese Eindrücke.