»Wasseramsel« von Wolf Spillner
Wie bereits geschrieben, war es in der DDR schwierig, an gute Bücher zu kommen. Wer nicht gerade auf Sachbücher über Marxismus-Leninismus oder Weltkriegsliteratur stand, tat sich schwer spannendes Lesematerial im öffentlichen Buchhandel zu bekommen. Es wurden zwar sehr gute Bücher gedruckt, doch die Auflagenzahlen waren wahrscheinlich niemals ausreichend, um den Bedarf zu decken.
An den Schulen in der DDR gab es deshalb eine Einrichtung, die sich Buchklub nannte. Für einen geringen Geldbetrag konnte man Mitglied werden und durfte sich dafür aus einem Katalog mehrmals im Jahr ein Buch aussuchen. Nicht jeder in meiner Klasse nutzte diesen Service. Die einen, weil sie nicht gerne lasen, die anderen, weil sie mit den Inhalten der Romane nichts anzufangen wussten. Andere wiederum verfügten über genug Westverwandtschaft, die sie heimlich oder offiziell mit Literatur aus dem Westen versorgte. Für den Rest blieb nur der Buchklub. Die Romane, die es dort gab, waren keineswegs schlecht und sie waren immer altersgerecht.
»Wasseramsel« gehört zu den Büchern, die ich auf diesem Weg erwarb. Zunächst war es das gezeichnete Cover, was mich ansprach. Der Roman ist mit wunderschönen Bleistiftzeichnungen illustriert. In erster Linie geht es um Freundschaft und die erste Liebe. Auf der anderen Seite wird das Leben in der DDR glaubhaft geschildert. Die Probleme, mit denen die Protagonistin Ulla zu kämpfen hat, waren verbreiteter, als uns die Regierung vormachen wollte:
Ulla ärgert sich nämlich, als an ihrem Lieblingsplatz im Wald ein Wochenendhaus gebaut und der kleine Bach für eine Forellenzucht angestaut wird. Dort hatte sie Winfried kennengelernt und sich in ihn verliebt. Sie ist entsetzt, als sie herausfindet, dass Winfrieds Vater der Generaldirektor eines großen Betriebes das Grundstück von der Gemeinde zugesprochen bekommen hat. Jeder Bewohner des Ortes kuscht vor ihm, nur Ulla nicht. Sie versucht mit Hilfe von Winfried und der Fotografie einer Wasseramsel, die Zerstörung des idyllischen Tals zu verhindern. Doch der Junge steht nur zum Schein auf ihrer Seite.
Es war das erste Mal, dass ich mich für ein Buch interessierte, das von Liebe handelte. In der Gedankenwelt des Mädchens entdeckte ich Parallelen zu meiner eigenen. Zu der Zeit fing ich an, mich ebenfalls für Jungs zu interessieren. Ich begann aber auch zu registrieren, dass sich die Wirklichkeit in der DDR nicht mit dem deckte, was man uns in der Schule darüber beibrachte. So entdeckte ich »Wasseramsel« zum richtigen Zeitpunkt. Ich habe es mehr als einmal gelesen und finde den Text und die Illustrationen heute noch ausgezeichnet.
Das Buch wurde 1990 von der DEFA verfilmt. Der Film trägt den Titel »Biologie!«. Ich habe ihn leider nie gesehen, denn zu diesem Zeitpunkt brach ich bereits in den »Weltraum« auf.