In meiner Schulzeit lief der 1. Mai wie folgt ab …
Man stand früh auf, zog sich Pionierbluse und Halstuch oder das FDJ-Hemd an und stiefelte zum vereinbarten Stellplatz. Der lag in einer größeren Straße der Stadt, wo man auf seine Klassenkameraden traf. Viele hatten selbstgebastelte Sträuße aus frischem Birkengrün und bunten Bändern zum Winken dabei. Jene die nichts hatten, bekamen von der Lehrerin ein DDR-Fähnchen aus Papier in die Hand gedrückt. Und dann reihte man sich in den Demonstrationszug ein.
Die Eltern liefen bei ihren Betrieben und die Kinder mit der Schule, die sie besuchten. Das war vielleicht beim ersten Mal noch aufregend, aber spätestens ab der vierten Klasse fand man das lange rumstehen, gehen und winken irgendwie albern. Da ich beim DRK war, durfte ich später dort mitlaufen, das nervte zwar weniger, aber blöd fand ich es trotzdem, besonders wenn es kalt war und regnete.
Nach einer gefühlten Ewigkeit setzte sich der Zug aus Menschen in Bewegung und wir marschierten durch die Innenstadt zum Marktplatz. Dort standen auf einer Tribüne die »wichtigen« Genossen, denen man zuwinken musste. Kaum war man daran vorbei, verlief sich der Demonstrationszug ganz schnell und die Leute machten sich über die Bratwurst- und Bierstände her. Manchmal – ganz selten – wurde auch Eis am Stil verkauft. Nun ja, schließlich musste man die Bevölkerung ja irgendwie belohnen, dafür dass sie den ganzen Vormittag auf der Straße verbracht hatte.
Am Nachmittag gingen wir dann als Familie meistens in den Schlossgarten, dort spielten Musikkapellen, es gab Essen und Trinken und für uns Kinder Spiele und eine Mal- und Bastelstraße. Gut erinnern kann ich mich noch, dass es einmal auch so eine Art Maibaum gab, an dessen Spitze ein Hulahup-Reifen befestigt war, an dem Süßigkeiten und Spielzeug hing. Wer sportlich genug war, den Baum hinaufzuklettern, konnte sich von oben als Preis etwas abreißen.
Auch in der DDR war der 1. Mai ein Feiertag, der jedoch mit einigen Verpflichtungen verbunden war. Tauchte man nämlich nicht beim Demonstrationszug auf, gab es am nächsten Tag in der Schule ein Gespräch oder einen Eintrag ins Klassenbuch. Es gab auch Lehrer (nicht alle), die die Kleiderordnung ziemlich eng sahen und schimpften, wenn man sein Halstuch vergessen hatte. Ich weiß noch, dass ich mal zur Zeugnisausgabe am Schuljahresende mein Zeugnis nicht bekam, weil ich keine Pionierbluse und kein Halstuch trug. Zum Glück wohnte ich nicht weit von der Schule, so dass ich schnell nach Hause laufen konnte, um es zu holen.
Damals war das Normalität, heute empfinde ich das reichlich übertrieben. Kein Wunder, mit solchen Restriktionen machte sich die Regierung in der DDR das Volk zum Feind. Denn die damaligen Maidemonstrationen hatten nichts mit Frieden oder Arbeit zu tun, sondern an diesem Tag ließen sich die hohen Genossen vom Volk feiern wie die Könige im Feudalismus. Diese Demos hatten für die normale Bevölkerung keinerlei Bedeutung.
Aber … durch die Maidemonstrationen geübt, wussten die Menschen 1989 dann zumindest, wie man richtig demonstriert.
Heute ist das Vergangene fast vergessen. Manche werden denken: zurecht. Aber gerade heute gäbe es viele Gründe, um auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. Wir tun es nur nicht, weil wir zu träge dafür sind, oder vielleicht auch, weil wir zu oft für etwas demonstriert haben, das uns bedeutungslos erschien.
Meine letzte Demo war gegen TTIP.