Bei Benno

Ich habe lange nichts über mein »punkiges« Geheimprojekt gebloggt. Inzwischen versuche ich jede freie Minute in die Geschichte zu stecken. Nur leider sind die freien Minuten in den letzten Monaten rar geworden. Und ich merke auch, dass ich nicht mehr so oft mit der Bahn unterwegs bin. Denn beim Bahnfahren hatte ich bisher den meisten Rohtext geschrieben. Am heimischen Computer funktioniert das nicht so richtig, da gibt es zu viel Ablenkung drumrum, und wenn es nur der Postbote ist, der klingelt.

Nichtsdestotrotz bin ich bereits am Ende des zweiten Drittels, habe ca. 200 Normseiten mit 300.000 Zeichen beschrieben. Es stockt momentan etwas, da ich noch einiges recherchieren muss. Ich möchte unbedingt noch etwas reinbringen, das ich im Exposé nicht eingeplant hatte, aber ich denke, die Mühe lohnt sich.

Bis ich damit fertig bin, dauert es hoffentlich nicht mehr so lange. Bis dahin, gibt’s hier mal wieder eine kleines Appetithäppchen.

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Ich will eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank nehmen und greife ins Leere.
Scheiße, das hatte ich total vergessen, das Bier ist alle. Ich sehe bangend zur Küchenuhr, die mir meine Mutter zum dreißigsten Geburtstag geschenkt hat. Ich habe nie verstanden, warum sie es für notwendig hielt, ihrem »ausgeflippten« Sohn, wie sie es nannte, eine Küchenuhr zu schenken. Die Uhrzeit, die ich dort ablese, rüttelt mich auf und drängt alle anderen Gedanken beiseite.
Es ist zehn nach Sechs.
Mist, die Kaufhalle hat seit zehn Minuten zu. Wo bekomme ich jetzt Nachschub her? Da fällt mir Benno ein. Sein kleiner Getränkehandel, hat sicher noch auf.
Hastig stopfe ich das Leergut in einen alten Plastikbeutel, ziehe die Stiefel an und werfe meine Lederjacke über.
Im Eiltempo renne ich die Treppenstufen hinunter und schwinge mich aufs Fahrrad. Es ist bereits dunkel und ich habe kein Licht am Rad. Das macht die Fahrt über das unebene Kopfsteinpflaster zu einem Abenteuer. Zehn Minuten später erreiche ich Bennos kleinen Laden. Es ist kurz vor halb sieben, und er will gerade die Jalousie schließen.
»Hey Benno, wart mal!«, rufe ich ihm zu.
Der alte Mann streckt den Kopf unter der halb heruntergelassenen Jalousie hervor und winkt.
Benno ist über siebzig, aber noch ganz rüstig und das obwohl er als Invalide aus dem zweiten Weltkrieg zurückgekehrt ist. Er war in Stalingrad und in seinem Körper stecken heute noch Splitter. Doch Benno redet nicht gern über die alte Zeit. Nur wenn er ein paar Bier zu viel getrunken hat, lässt er sich die Erinnerungen daran entlocken. Eigentlich gehört der Getränkehandel seinem Sohn, doch der hat nach ein paar Jahren Arbeitslosigkeit wieder seinen Job im Glaswerk bekommen. Sie haben ihn zurückgeholt, weil er sich mit dem Glasmachen besser auskannte, als die jungen Schnösel aus dem Westen. Den kleinen Laden schmeißt nun Benno und er scheint glücklich darüber zu sein, noch gebraucht zu werden.
Ich schwenke den Beutel mit dem Leergut und komme mit dem Fahrrad kurz ins trudeln.
»Ach der Jens!«, ruft Benno und zieht die Jalousie wieder ein Stück nach oben. »Na mein Junge, haste Durscht?«
Ich stelle das Fahrrad ab und nicke atemlos.
Lächelnd nimmt er mir den Beutel mit den leeren Flaschen ab. Sein schlohweißes Haar quillt unter der Schiebermütze aus Leder hervor. Der blaue Arbeitskittel ist ihm eine Nummer zu groß, dafür aber sauber und gebügelt.
Ich folge ihm in den Laden, der bis unter die Decke mit Getränkekästen angefüllt ist. Nur ein schmaler Gang erlaubt einen Zugang bis zum kleinen Tresen. Der schwere Geruch von Bier und Holz liegt in der Luft.
»Was hätt’ste denn gern?«, fragt Benno während er die Flaschen aus dem Beutel klaubt und in eine leere Kiste sortiert.
»Was is‘n die Woche im Angebot?« Angesichts meiner eher dünnen Finanzen habe ich keine große Auswahl.
»Köstritzer und so ’nen Zeug von ’ner Brauerei aus Franken, aber die Brüh empfehl ich dir nich.«
»Dann sechs Köstritzer und zwei Cola!«
Benno packt sechs Flaschen Bier in den Beutel und geht zu den Kästen mit den Erfrischungsgetränken. Kurz davor dreht er sich zu mir um. »Althergebrachtes oder das süße Gesöff von drüben?«
Ich grinse. »Althergebracht klingt gut.«
Zwei Vita-Colas verschwinden im Beutel.
Benno kommt zum Tresen zurück. Sein rotgeädertes Gesicht lächelt freundlich, die große Warze an seiner Nase, zuckt bei jedem Atemzug. »Da mein Jung.« Er drückt mir den Beutel in die Hand.
Der ist verdammt schwer und ich stelle ihn zwischen meinen Füßen ab.
Mit einem Kugelschreiber kritzelt Benno meinen Einkauf in ein großes Buch und rechnet zusammen. »Das macht sechs Mark zwanzig.«
In meinem Portmonee herrscht gähnende Leere. Außer einem zerfletterten Zehn-Mark-Schein und ein paar Münzen, ist nicht viel übrig. Fieberhaft rechne ich aus, was mich die bestellte Pizza kosten wird und überschlage meinen finanziellen Spielraum. Scheiße! Es reicht nicht.
Benno sieht mir zu, wie ich das Kleingeld zähle und sagt schließlich: »Lass nur, ich schreib’s an. Dann bezahlste halt nächstes Mal.« Lächelnd macht er eine Notiz hinter die Summe in seinem Kassenbuch.
»Danke!« Einerseits fällt mir ein Stein vom Herzen, andererseits beschleicht mich ein klein wenig ein schlechtes Gefühl. Was ist los mit mir? Früher habe ich Kistenweise Bier im Konsum geklaut, ohne daran einen Gedanken zu verschwenden, und jetzt plagt mich das schlechte Gewissen, weil ich meine Rechnung nicht bezahlen kann. Entweder ich werde wirklich alt oder es liegt an dem netten alten Mann.
Der steht hinter dem Tresen und betrachtet mich mit aufmunternder Miene. Dann blickt er auf seine Armbanduhr und macht eine scheuchende Handbewegung. »Jetzt aber raus. Ich muss zumachen, meine Rosi wartet.«
Benno hat eine Frau? Das ist mir neu. »Ich dachte du bist Witwer?«
Er lacht schallend, während er mich vor sich her aus dem Laden treibt. »Was hast du denn gedacht, dass ich mich einsam ins stille Kämmerlein zurückziehe und es mir jeden Abend selbst besorge? Nee, mein Jung, Rosi und ich sind seit sechs Monaten glücklich verheiratet. Mit allem drum und dran.«
»Du hast nie von ihr erzählt.« Ich ziehe den Kopf ein, um unter der halb heruntergelassenen Jalousie ins Freie zu kommen und drehe mich um.
Benno lächelt seelig und verheißungsvoll, seine hellblauen Augen funkeln. »Berechnung!«, sagt er und fügt verschwörerisch hinzu: »Ihr Jungchen müsst nich’ alles wissen.« Dann strahlt er übers ganze Gesicht.
Unwillkürlich lächle ich zurück. Seine offene Freude ist ansteckend. Insgeheim wünsche ich mir, dass ich in Benno’s Alter auch noch so glücklich bin, wie er.
Er winkt mir kurz zu, bevor er die Jalousie herunterrasseln lässt.
Das Leben steckt voller Überraschungen, stelle ich mal wieder fest und schwinge mich aufs Rad, den Beutel mit den Flaschen halte ich fest in der Hand.