»Punk ist tot« verkündete Joe Corré, der Sohn des verstorbenen Sex-Pistols-Managers Malcolm McLaren, und zündete in einer beispiellosen Aktion die Sammlung seines Vaters an. Memorabilien aus den wilden Punk-Zeiten der Sex-Pistols im Wert von fünf Millionen Euro wurden ein Raub der Flammen. Sein Kommentar: »Punk hätte niemals zur Nostalgie werden dürfen und gehört nicht ins Museum.« Das mag man jetzt idiotisch finden, ich finde es zumindest konsequent. Punk ist nicht nur Musik. Punk ist Anarchie und damit auch eine Lebenseinstellung zu der auch der Verzicht auf Kommerz gehört. Und Nostalgie … sicher wird es den Alt-Punks nostalgisch zumute, wenn sie an frühere Zeiten denken, in denen sie biertrinkend in der Fußgängerzone Passanten angeschnorrt, sich bei Punkkonzerten in heruntergekommenen Klubs die Nächte um die Ohren gehauen haben oder sich bei den Chaostagen in Hannover Schlachten mit der Polizei lieferten. Zeiten die längst vergangen, aber in den Erinnerungen der meisten immer noch präsent sind, auch wenn sie inzwischen am Sonntagnachmittag Teetrinkend auf der heimischen Couch sitzen, statt bei Wind und Wetter um die Häuser zu ziehen. Es ist die Gesinnung, die zählt, das sich Abheben von der Masse, gegen den Strom schwimmen. Dazu gehört aber auch das nicht verstanden werden. Auch Joe Corrés Tat wird von den meisten Menschen nicht verstanden, dabei handelte er nur nach der Weltanschauung jener Band, die den Punk in den Siebzigern mit begründeten.
Ist Punk tot? Die Antwort lässt sich nicht so leicht beantworten. Am Ende muss das jeder für sich selbst entscheiden. Aber wenn es eine fast vierzig Jahre alte Weltanschauung schafft, jemanden wie mich zu infizieren, dann scheint noch eine Menge Leben in ihr zu stecken. Ich glaube, dass Punk niemals tot sein wird. Denn der Gedanke der Rebellion schlummert in uns, auch wenn wir ihn vielleicht vergessen haben.
Passend dazu gibt es noch eine Kostprobe vom aktuellen Geheimprojekt:
… Da fällt mir Henrys Karte wieder in die Hände.
»Bratwurstpogo« – Ich verziehe das Gesicht. Henry kann’s echt nicht lassen, mir immer wieder diesen Spitznamen unter die Nase zu reiben. Bekommen habe ich ihn vor zwei Jahren in Köln. Die Punks dort fanden das witzig, nur weil wir aus Thüringen sind. Aber die Tage in Köln waren der Hammer: Saufen, Ficken, Scheiße bauen. Das hatte was Erhabenes, war irgendwie besonders, so wie früher nur besser, weil es keine Spitzel gab, vor denen wir uns in Acht nehmen mussten.
Gott, die Wessis haben doch keine Ahnung, wie leicht sie es hatten.
Scheiße! Die Erinnerungen machen mich depressiv. Henrys krakelige Schrift auf der Karte tut ihr Nötigstes dazu. Warum er, warum musste ausgerechnet er in den Westen. Und dann noch so weit weg, ans andere Ende von Deutschland. Er hätte doch wenigstens nach Bayern gehen können, das sind nur knapp hundert Kilometer von hier. Und wenn die neue Autobahn fertig ist, wäre es nur noch ein Katzensprung… Wenn! … Wenn!
Wütend werfe ich die Karte weg, sie segelt träge durch den Raum und kommt schließlich am Boden vor dem Fenster zu liegen. Ich starre sie an, als käme sie geradewegs aus der Hölle, um mich zu verspotten.
Man bräuchte eine Zeitmaschine, so wie bei H. G. Wells oder wie der DeLorean aus »Zurück in die Zukunft«. Dann könnte man …
»Das hat doch alles keinen Sinn«, murmle ich vor mich hin und stehe auf, um die Karte wieder aufzuheben.
Draußen vor dem Fenster breitet sich die kleine Stadt aus: Rechts und links die Wohnblocks des Neubaugebietes; weiter unten alte Häuser, dicht gedrängt in schmalen Straßen, zwischendrin Industriebrachen und Ruinen, die wie Zahnlücken im Stadtbild aussehen.
Das Tal ist der Stadt im Laufe der Jahrhunderte zu eng geworden. Die Häuser schmiegen sich bereits an die Flanken der Berge und Hügel. Überwuchern sie mit roten Dächern und grauen Straßen. Die Teiche des Naturschutzgebiets teilen die Außenbezirke in zwei Teile. Dahinter thront der Uni-Campus. Quaderförmige Betonbauten gruppieren sich um den Mensa-Würfel. Auto an Auto reiht sich dort in den Straßen, wie auf dem Parkplatz einer Autofabrik.
Die Sonne scheint nicht mehr, jetzt sieht alles nur noch grau und trist aus. Die Kuppen der im Süden aufragenden Berge sind umhüllt von einer Wolkenschicht. Der Wind schiebt vom Norden immer mehr Wolken heran, macht die Schicht dichter und dichter. Es wird heute ganz sicher noch regnen.
»Ich will hier nicht weg«, flüstere ich leise vor mich hin.
Mein Blick fällt auf die Karte in meiner Hand. Liebevoll streiche ich mit dem Daumen über den abgebildeten Stinkefinger und muss lächeln. Ja, richtig. Fuck you!
Ich stecke die Karte gut sichtbar ans Bücherregal und kehre an meinen Mac zurück. Arbeiten lenkt ab, heißt es. Außerdem … Das Leben muss weitergehen.