Das Land in dem ich geboren wurde, gibt es nicht mehr. Dieser Gedanke ist, näher betrachtet, schon ziemlich merkwürdig. Denn ich habe weder meine Heimat verlassen noch Familie oder Freunde. Und doch ist mein Geburtsland sang und klanglos von der Bildfläche verschwunden, inklusive seiner Gesellschaftsordnung. Noch erstaunlicher ist der Zeitrahmen in dem das alles geschehen ist. Denn in geschichtlichen Zeiträumen gesehen, kam der Untergang von heute auf morgen. Es blieb weder Zeit für Abschiedsschmerz, noch für weise Vorausplanung; keine Zeit für das Seelenheil der Menschen, die darin lebten und keinerlei vernünftige Vorschriften für Wirtschaft oder die Gesellschaft an sich.
Als friedliche Revolution von Millionen gefeiert, entpuppte es sich später eher als feindliche Übernahme. Darüber haben inzwischen viele Leute aus Ost und West geschrieben und jeder Bundesbürger sollte inzwischen darüber Bescheid wissen. Mir geht es heute um ein persönliches Statement.
25 Jahre nach der Wiedervereinigung komme ich nicht umhin, zurück zu blicken, auf meine ersten 16 Jahre im »Sozialistischen Vaterland DDR«. Ich möchte versuchen die Sicht, die ich und viele meiner Generation auf die Wende haben, in Worte zu fassen und verständlich machen, warum wir heute noch viele Dinge anders sehen, als unsere Freunde im Westen.
Ein Studienfreund sagte einmal zu mir: »Wir werden keine Wessis mehr.« Und da ist durchaus etwas dran. Doch warum eigentlich? Sind 16 Jahre sozialistische Prägung wirklich so einschneidend und wie viel Sozialismus haben wir als Kinder wirklich verinnerlichen können? Eines, was ich an mir und an anderen beobachtet habe ist, dass uns Ostdeutschen der Biss fehlt, um sich in einer Gesellschaftsordnung wie der jetzigen durchzusetzen. Wir haben einfach nicht den notwendigen Killerinstinkt oder das entsprechend große Ego, welches man braucht, um zu bekommen, was man will. Dafür haben wir eine Fähigkeit, die uns von den im Westen Aufgewachsenen unterscheidet: Wir können unglaublich gut improvisieren. Ich merke das häufig in meinem Job. Während die Kollegen noch rätseln, wie man das jetzt machen könnte, präsentiere ich bereits eine Lösung. Aber meistens wird die nur bedingt für würdig befunden, weil ich nicht das notwendige Selbstbewusstsein habe, meine Idee auch zu verteidigen.
Auch Zusammengehörigkeitsgefühl und Vertrauen war etwas, dass man in der DDR gelebt hat. Es wurde viel mehr miteinander gemacht. Doch das ist in den 25 Jahren verloren gegangen. War man früher einander gleich, so ist man es heute nicht mehr. Heute bestimmt gegenseitiges Misstrauen unser Handeln, auch unter den Menschen, die früher befreundet waren.
Sicher, es überwiegen die positiven Auswirkungen der Wiedervereinigung. Und dabei denke ich in erster Linie nicht nur an Rede- oder Reisefreiheit. Ich bin sehr dankbar, dass ich 1990 auf dem neu gegründeten Gymnasium mit etwas vertraut gemacht wurde, das sich Humanismus nennt; das Toleranz gegenüber anderen Meinungen und anders Denkenden ein wichtiges Gut ist. (Sofern sie damit niemandem Schaden zufügen.) Auch bin ich dankbar dafür, dass ich all die Bücher lesen durfte, die ich wollte; das ich »Star Trek« im Kino erleben konnte; das ich jede Woche die »Bravo« und »Perry Rhodan« kaufen konnte, ohne in der Schule deswegen Ärger zu bekommen. Ich bin dankbar für die Weltsicht, die man mir aufzeigte, denn ich glaube, dass ich heute ein völlig anderer Mensch wäre, hätte es die Wende nie gegeben.
Einen Einwand mag man mir aber noch zugestehen. Es war so viel möglich in jener Zeit zwischen dem 9.11.1989 und dem 3.10.1990 und es wurde so wenig davon umgesetzt. Die Chance etwas Neues zu schaffen, opferte man dem schnöden Mammon »Geld«. Und daran waren beide Seiten schuld. Die DDR-Bürger, die das Alte nicht mehr mochten und alles Neue aus dem Westen als das Nonplusultra begrüßten, nur um dann Jahre später festzustellen, dass auch dort nicht alles perfekt und gut war. Und die Westdeutschen, die in gutgemeinter Absicht glaubten, dass man die »armen« DDR-Bürger erretten müsse und ihnen zeigen, was man für die Krone der Schöpfung hielt. Es ging viel zu schnell und doch hätte es nicht langsamer gehen können, weil die Ungeduld in vier Jahrzehnten auf beiden Seiten zu groß geworden war, als dass man den Prozess hätte bremsen können. Heute nach 25 Jahren sind wir reifer, erfahrener und wissen inzwischen, wo wir Fehler gemacht haben.
»Das Dritte Reich wirkt bis in die Gegenwart nach, obwohl es nur zwölf Jahre gedauert hat. Die DDR, der immerhin 40 Jahre beschieden waren, ist heute so fern, als hätte es nie gegeben.« Diese Worte aus der Süddeutschen Zeitung vom 1.9.2004 legen eine fast schon erschreckende Wahrheit frei. Denn ich möchte meine Vergangenheit weder totgeschwiegen wissen, noch auf wenige Begriffe, wie Stasi, Mauer oder Trabbi reduziert sehen. Meine Kindheit war mindestens genauso bunt, wie die meiner Freunde im westlichen Teil Deutschlands. Und hin und wieder erlebe ich in Gesprächen, dass meine skurrilen Erlebnisse mit dem »Arbeiter-und-Bauern-Staat« nicht nur meine Gesprächspartner in Erstaunen und Verwunderung versetzen, sondern auch mir plötzlich einen ganz neuen Blick auf meine Vergangenheit eröffnen.