„89/90“ von Peter Richter, erschienen im Luchterhand-Literaturverlag.
Noch nie habe ich mich einer Zielgruppe so zugehörig gefühlt, wie beim Lesen dieses Romans. Der Autor und ich hätten in eine Klasse gehen können. Vieles, was er beschreibt, habe ich wie so viele meines Jahrgangs eins zu eins so erlebt. Es ist genau das Buch, was ich immer schreiben wollte.
Peter Richters autobiographischer Roman dokumentiert die letzten Monate der DDR aus der Sicht eines Jugendlichen und das wie ich finde sehr authentisch. Denn, was ist das Leben schon außer Alltag: Da fällt die Mauer und am nächsten Tag erwartet einen in der Schule eine Leistungskontrolle in Mathe. Genauso war es. Da brechen beim Lesen die vielen großen und kleinen Erinnerungen auf, an eine Zeit die unglaubliche 25 Jahre zurückliegt. Und es fühlt sich wieder an, als wäre es gestern gewesen. So als wäre ich noch die Fünfzehnjährige in pinkfarbenen Karottenhosen mit blonden Dauergewellten Haaren, die Freitag abends mit dem Kassettenrekorder die Songs aus der Hitparade auf Bayern 3 aufnimmt; die zu „Dirty Dancing“ ins Kino rennt und durch einen glücklichen Umstand (Bänderzerrung am Sprunggelenk) um den Zivilverteidigungskurs an der Schule herumkommt. So bescherte mir „89/90“ ein ganz besonderes Kopfkino.
Doch das Buch ist weit mehr. Peter Richter vermittelt Geschichte aus einer individuellen aber treffenden Sicht und liefert klar und überzeugend Hinweise auf die Entstehung des Neofaschismus im Osten. Man versteht plötzlich warum es so kam und kommen musste. Er beschreibt die Anarchie, die nach dem 9. November 1989 in fast allen Bereichen der Gesellschaft herrschte. Die Machtlosigkeit mit der Behörden und Institutionen agierten, hilflos zusahen wie Menschenrechte untergraben wurden. Wie Geschäftemacher ihre Chancen ergriffen, wie warnende Stimmen überhört und eine ganze Gesellschaftsordnung von heute auf morgen einfach ersatzlos außer Kraft gesetzt wurde.
Die Darstellung des Autors, wie sich ein Land und seine Menschen innerhalb von Monaten völlig veränderten, ist so glaubwürdig geschrieben, dass einem heute davor schaudert. Dabei bedient er sich der Sprache der Jugend, schlicht und unmissverständlich – mit dem leicht arroganten Beiklang eines jungen Menschen, der glaubt, dass die Welt auf ihn gewartet hat. Aber genau das macht den Reiz der Geschichte aus. Auch wenn am Beginn des Buches steht, dass die handelnden Figuren reine Fiktion sind, so weiß man doch aus eigener Erfahrung, dass es den S. oder die L. so oder ähnlich gegeben hat. Und hier kommen wir zu dem einzigen Punkt, den ich kritisieren muss. Das Stilmittel des Autors, anstatt der Namen nur die Abkürzung derer zu verwenden, finde ich ein wenig störend. Da kommt man bei der Länge des Romans mit immerhin 412 Seiten oftmals ins Schleudern, wenn man sich fragen muss: Wer war nochmal der K.?
Ja, wir waren der letzte Jahrgang, der noch alles mitmachen durfte – damals in der DDR. Aber wir waren auch der erste Jahrgang, dem nach der Wende die Welt offen stand – wenn man es zu nutzen wusste.
Fazit: Ein lesenswertes Buch nicht nur für „Betroffene“ wie mich, sondern auch für die, die wissen wollen, wie es wirklich war als Jugendlicher in der dahinscheidenden DDR. Allein mit den vielen Fußnoten in Peter Richters Roman könnte man ein ganzes Geschichtsbuch füllen, dass alles andere als langweilig wäre. Ach ja, nebenher erfährt man auch einiges über Punkrock im Osten.